> zu Übersicht der Texte
 
  Joachim Hirling, Karlsruhe - 18. Oktober 1995
 
Text zur Beschreibung des geplanten Studienaufenthalts in Taiwan vom 01.10.1996 - 30.09.1997  
     In einem Atelier vor Ort möchte ich meine eigene künstlerische Arbeit fortsetzen. Im Hinblick darauf erachte ich es als notwendig, mich mit klassischer chinesischer Kalligraphie, insbesondere der "Grasschrift mit laufenden Pinselstrichen" und dem "Dünnen goldenen Stil", auch unter Einbeziehung der klassischen chinesischen Malerei, hiervon besonders mit der der Tang-, Song- und Yuan-Dynastien auseinander zusetzten und diese zu studieren.

Künstler für die ich mich interessiere sind Wang Wei / Tang-Dynsastie, Liang K'ai, Ma Yuan und Wan T'ang / Song-Dynastie, sowie Ni Tsan und Yü Chien / Yuan-Dynastie. Aus diesem Grunde möchte ich mich auch am National Institute of the Arts, dem "Kuo Li I Shu Hsueh Yuan" in Taipei, Taiwan einschreiben. Das Palastmuseum in Taipei besitzt zu diesen Bereichen zudem eine hervorragende Sammlung von Kunstschätzen.
 

 
     Zu meinem durch den Aufenthalt verbesserten direkten Verständnis der Kalligraphie, kommt auch eine Vertiefung meiner bisherigen Chinesischkenntnisse hinzu, die dieses Verständnis noch weiter begünstigen wird. Da in Taiwan die chinesischen Langzeichen im Schriftverkehr verwendet werden, wie sie in der klassischen chinesischen Kalligraphie als Ausgangspunkt dienen, im Gegensatz zu den in Festlandchina gebräuchlichen Kurzzeichen, ist es für mich sinnvoll für diesen Studienaufenthalt nach Taiwan zu gehen.
 

     Diesen Studienaufenthalt erachte ich deshalb als notwendig, da ich durch meine bisherige Berührung und Auseinandersetzung mit der klassischen chinesischen Kalligraphie eine Wesensverwandtschaft zu meiner eigenen Arbeit erfahren habe. Durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser möchte ich die daraus zu gewinnenden Erfahrungen für meine weitere künstlerische Entwicklung nutzen.

Wir leben zwar in einer anderen Epoche und arbeiten an und mit einer für uns entsprechenden Vorgehensweise und Formsprache, doch erscheint es mir hilfreich, das Wesen und die darin enthaltene Kraft der klassischen chinesischen Kalligraphie zu nutzen.
 

     Nach dem Sommersemester 1996 beende ich mein Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Hier studierte ich 12 Semester bei Professor M. G. Kaminski Malerei und Grafik, abgesehen von einem Semester (Wintersemester 1992/93) bei Frau S. Weber, die ihn für ein Arbeitssemester vertrat, einschließlich meiner Zeit als Meisterschüler.

Zusätzlich nahm ich an den hier angebotenen Kunstgeschichtsvorlesungen von Professor Doktor J. Heusinger von Waldegg und Professor Doktor A. Franzke, sowie den meisten Gastvorträgen teil, u.a. von Th. Lehnerer - "Ästhetik im Überblick", Wintersemester 1990/91, einem klassenübergreifenden Angebot bei R. Mucha, Sommersemester 1993 und Wintersemester 1993/94 und einer Einführung in die chinesische Kunstgeschichte von Herr M. Kropp, Sommersemester 1992, welcher auch im Sprachenzentrum der Universität Karlsruhe als Lehrbeauftragter Chinesischkurse gab, die ich seit dem Wintersemester 1991/92 besuchte.
 

     Zu meinen KommilitonInnen und meinem Freundeskreis gehören auch StudentInnen aus Taiwan, Südkorea, Japan Thailand und China. Im Sommer 1992 war ich für gut acht Wochen in Taiwan und auf der Rückreise zwei Wochen in Thailand, um diese Länder und deren Kulturen kennenzulernen, die von einem anderen Lebensgefühl und anderen Ausdrucksformen geprägt sind, sowie um meine bis dahin erlernten chinesischen Sprachkenntnisse anzuwenden.
 

     Während meiner Studienzeit waren meine Arbeiten anfangs lange Zeit von immer wieder unterschiedlichen Vorgehensweisen geprägt. Damit setzte sich für mich eine Arbeitsweise fort, wie ich sie teilweise auch in den Jahren vor dem Kunststudium in autodidaktischer Ausübung praktizierte.

Seit der frühen Kindheit zeichne und male ich aus eigenem Antrieb heraus, Kunstunterricht in der Schule gab es für mich nur bis zur 10. Klasse, ab dann bis einschließlich der 13. Klasse aus Lehrermangel nicht mehr. Dies störte mich nicht besonders, da ich vor allem in meiner freien Zeit zeichnete und malte, wie auch z.B. während meiner Ausbildung zum Schriftsetzer, im Zivildienst und der anschließenden Arbeitstätigkeit.
 

     Zu Beginn meines Studiums arbeitete ich vornehmlich an Figurenbildern und Stilleben, zu denen, und in die sich zum Teil Fundstücke und aus dem Malprozess hervorgegangene Arbeitsspuren und -mittel hineinmischten. Daraus entwickelten sich abstrahierte Arbeiten, auch unter Einbeziehung landschaftlicher Aspekte.
 
     Ich gehe dabei davon aus, das alles, so unterschiedlich es auch ist, aus dem gleichem Kosmos hervorgeht, und sich in unterschiedlichen Tendenzen in immer wieder verschiedene Formationen bringt und dadurch einen ständigen Prozess des Gestaltwandels durchläuft, der zu den verschiedensten Ausgestaltungen kommt, aber dabei aus einer unfassbar gleichen Grundkraft die Energie dafür schöpft. Ich erfahre dabei nicht ein "entweder oder" als bestimmend, sondern ein "sowohl als auch".
 

     Insgesamt intensivierte sich meine Arbeit während des Studiums, vor allem durch die tägliche Übung. Sie beschleunigte sich auch durch die Abklärung meiner bisherigen Entwicklung zum jetzigem Stand, indem ich mich wieder tiefergehender mit einem bestimmtem Bereich auseinandersetze.

Diese Verschiedenheit in der Zeit davor war auch der Hauptkritikpunkt in den Besprechungen mit meinem Professor M. G. Kaminski, vor allem im Hinblick darauf, wie ich mein wesentliches künstlerisches Anliegen, - dass Wahrnehmung zur Auflösung von Wahrnehmung führt, wobei ich von mir als menschlichem Betrachter und Maler ausgehe, - verdichteter und direkter umsetzen kann, ohne meine Offenheit aufzugeben, um in dieser ständigen Herausforderung immer wieder über das Erreichte hinauszugehen und dies weiter zu optimieren, soweit es eben bis zu einem bestimmten Punkt möglich ist.
 

     Allmählich versuchte ich immer mehr, meine Einzelaspekte, Aussagen und Ausformungen miteinander zu verschmelzen und kam zu stärker strukturbezogenen abstrakten Arbeiten.

Ich gehe dabei von einer Vermischung von realen und abstrakten Bildern aus. Impulse dazu kommen für mich durch Farbreizwahrnehmungen von Mustern und schemenhaften Erscheinungen bei geschlossenen Augen.

Bedingte Parallelitäten dazu beobachte ich auch durch Formauflösungsprozesse bei Spiegelbildern auf Wasseroberflächen, in Regen-, Schnee- und Nebelschleiern, Tarnmustern bei Tieren, Überlagerungen von Sedimenten oder Holzmaserungen, oszillierenden Newtonringerscheinungen zwischen Folien, auflösungsbedingten Momenten wie z.B. in Foto- oder Rasterbildkörnungen, Flimmererscheinungen bei Fernseh- und Videobildern und durch Bewegung ausgelöste Formverfremdungen.

Ein weiterer Faktor ist aber auch das unvoreingenommene Beobachten davon, was mit der Farbe beim Auftragen auf den Bildträger geschieht, und das intuitive und rückgekoppelte Reagieren darauf. Bisher vollzogene Erfahrungen und das Einbeziehen von Zufallsfaktoren unterstützen dies.

Interessant für mich sind diesbezüglich auch Strukturentstehungen, die sich durch fortlaufende Prozesse bilden, wie beispielsweise bei Vegetationen, Wolken, Erdformationen, Wasserbewegungen, Sternkonstellationen oder auch bei Schriftbildern.
 

     So wie sich durch Zusammenballungen und Überlagerungen in einem Wechselspiel aus Einzelpartikeln Formationen bilden, die wiederum in darüber übergeordnete Formationen eingehen und in immer neue Gruppen und Verbände eintauchen, ist es für mich ein Versuch, das Unfassbare dieser bewegungsauslösenden, in der Welt inne liegenden Kraft zu berühren, und zur Wirkung kommen zu lassen.

Dies ist für mich ein nüchterner, offener Vorgang, der vom Staunen über die Welt geprägt ist und der Bedeutsamkeit dessen, was nicht gesagt werden kann, wie es u.a. der Philosoph Wittgenstein formulierte.

Dies schließt wohl auch das immer wiederkehrende Scheitern daran ein, dieses nicht wirklich Fixieren können und es dennoch zu versuchen, dieses Unsagbare zu formulieren, da die Welterscheinung nicht bloß eine Idee ist, sondern etwas sinnlich Wahrnehmbares.

Für mich hängt es auch damit zusammen, dass Wahrnehmung ab einem bestimmtem Grad zur Auflösung von Wahrnehmung führt, und sich jenseits von Gedanken und Empfindungen wiederfindet, in direkter nüchterner Betrachtung von ganz erfüllter Leere und Weite, doch diese Loslösung von Wahrnehmung zerfällt wieder, und führt so zu erneuter Wahrnehmung. Es erfordert immer wieder neue Konzentration, um dies zu erreichen.
 

     Hierin liegt auch mein Interesse an der klassischen chinesischen Kalligraphie. Es ist ihre Konzentriertheit bei gleichzeitigem freiem gelenktem Spiel der Linien, die sich auch als Formflecken und komplexe Gebilde gebärden, so dass ein interessantes Wechselspiel zwischen gedanklichem und sinnlichem Wahrnehmen entsteht, indem sich die Gegensätze immer wieder aufzuheben scheinen und sich wieder neu manifestieren.

Dabei entsteht ein mehrstimmiges Spiel, dass sich in einem immer wieder erkennbarem und sich auch immer wieder entziehenem Ausdruck findet. Hieraus entstehen auch vielschichtige Assoziationen und Wahrnehmungsbögen.
 

     Dies hängt zum einen damit zusammen, dass das Chinesische eine Sprache mit sehr vielen Homophonen von differenzierter Bedeutung ist; und dies sich zumal noch fortsetzt in unterschiedlichen Bedeutungen der gleichlautenden Silben bei verschiedener Tonlage.

Ein anderer Aspekt ist in der chinesischen Schrift begründet, bei der jedes Zeichen einem Wort entspricht. Es gibt natürlich auch zusammengesetzte und somit mehrsilbige Wörter.

Ausgangspunkt bei der Entstehung der früheren Zeichen ist ein Piktogramm, also eine zum Zeichen abstrahierte bildliche Darstellung. Die überwiegende Mehrzahl der heute gebräuchlichen Zeichen besteht aber aus rein abstrakten Zeichen. Insgesamt entseht dadurch eine Überlagerung von Bildlichem und Geistigem.

Der nächste Aspekt ist ein Klanglicher, da es Zeichen für Laute sind und sie somit eine direkte flüchtige Erscheinung wiederspiegeln. Darüber hinaus ist dieser klangliche Aspekt ebenso eine Übertragung von etwas Geistigem, das an etwas Sinnliches gekoppelt ist, und damit erst sinnlich wahrnehmbar wird, wie in allen Sprachen.

Dies erschöpft sich aber nicht im Intellektuellem, sondern wird im lyrisch dichterischem Inhalt des geschriebenen Textes von Poesie erfüllt.

Dies geschieht über das Medium Schriftzeichen, die in einer strengen Strichabfolge aufgebaut sind, zum Teil wird dies aber auch dadurch wieder konterkariert, dass manche komplexeren Zeichen - in der Grasschrift - vereinfacht, durch das Zusammenziehen von bestimmten Strichfolgen wiedergegeben werden, die Kenntnis der ursprünglichen Strichfolge erleichtert die Ausführung und Entzifferung eines Zeichens.

Zum Teil entsteht eine völlige Unkenntlichkeit, wobei durch ein ausdruckstarkes Pinselspiel der jeweiligen individuellen Handschrift auch eine Neuschöpfung von Zeichen, bzw. eine Schöpfung von "Bildern" geschieht. Mit dem gesamtem Text entsteht so ein Rhythmus von völlig einzelnen Individuen, mit dem auch ein Rückführung zu einem rein betrachtendem Aspekt erreicht wird.
 

     In den Bildern von der Tang-Dynastie, ab dem 7. Jhd. n.Chr. über die Song-Dynastie bis zur Yuan-Dynastie, 14. Jhd. n.Chr. stellt sich dies scheinbar umgekehrt dar, indem nicht vom Gedanklichem, wie in der Schrift, sondern vom unmittelbar Anschaulichem ausgegangen wird. Aber nicht im Sinne um eine realistische Darstellung von dem Anschaulichem wiederzugeben, sondern um die "Visualisierung" des geistigen Bildes von etwas darzustellen. Hier wird aber ebenso mit einer Sparsamkeit von Mitteln eine Vielfältigkeit von Ausdrucksnuancen erreicht.

Im Laufe der Entwicklung stellte sich auch immer mehr eine Schwebe von abstrakten und naturalistischen Darstellungen ein, indem zunehmend der Darstellungsgegenstand einer Landschaft nicht mehr nachahmend mit einer umschreibenden Linie wiedergegeben wird, sondern ein Aufbau oft aus dem konkretem abstraktem Pinselstrich entsteht, indem der Eigenwert dieses Tuschefleckens genutzt wird, um gleich einer Entsprechung des dargestellten Naturstückes etwas herauszuarbeiten.

 Leerbleibender Malgrund wird häufig mit in die Darstellung einbezogen als Ausdruck für das nicht Darstellbare. Da Korrekturen mit der Tuschetechnik nicht möglich sind, ist ein sehr konzentriertes Arbeiten erforderlich.

Sehr oft werden die Bilder auch über Gedichte in ihnen mit der Kalligraphie verwoben. Das Gedicht beschreibt aber nicht das Bild, oder umgekehrt, sondern sie sind zwei verschiedene Ausdrucksformen zu einem Thema.
 

     Um dies richtig aufzunehmen ist es erforderlich, als Person wirklich in dem dazugehörigen Umfeld präsent zu sein und sich dieser Situation ganz auszusetzen und das dortige Lebensgefühl über einen längeren Zeitraum von Kontinuitäten und Wechseln, Konsequenz und Widersprüchlichkeit selbst zu erfahren, gerade deshalb, weil ich selbst einem anderen Kulturkreis angehöre.

Wichtig für mich ist auch, mich auf Gegebenheiten einzulassen, die ich im einzelnen nicht vorab sehen kann, auch um meinen eigenen Standpunkt und meine Sichtweise zu überprüfen und genauer definieren zu können.

Durch das direkte Zusammentreffen mit unterschiedlichen Menschen wird sich mein Vorhaben intensivieren. Auch gerade weil ich dann in dem Lebensraum bin aus dem diese Schrift- und Bildkultur hervorgegangen ist, mit der ich mich auseinandersetzen will. Hinzukommt, dass ich damit auch ständig mit Menschen in Kontakt sein werde, für die der Umgang mit dieser Schrift selbstverständlich ist.
 

     Um aber nicht zu sehr im Alltag verloren zugehen, möchte ich mich an einer Hochschule als Gasthörer einschreiben, vor allem um alltäglich beim Erlernen der Kalligraphie mit chinesischen Künstlern in Dialog zu treten, deren Kritik zu erfahren und direkte Ansprechpartner für entstehende Fragen zu haben, sowie Zugang zur Bibliothek und den Werkstätten, eventuell auch einen Atelierplatz der Fakultät zu erhalten.

Darüber hinaus ist es auch interessant für mich zu erfahren, wie dortige Studenten ihre Auseinandersetzung mit der Kalligraphie ausüben und zu welchen Ergebnissen sie kommen. Entscheidend für mich wird aber hier vor allem die alltägliche Ausübung und die dadurch gewonnene Erfahrung sein.
 

   

     In der ersten Zeit wird es vor allem ein Einüben der entsprechenden Technik sein, um in einem zweiten Schritt damit frei umgehen zu können, um sie in meiner eigenen Arbeit zu verwenden und zu integrieren.

Textinhalte werden ich voraussichtlich in Form von Fragegesprächen anlegen mit Menschen, die mir dort begegnen, wodurch ich einen Dialog eröffnen kann und zu einem besseren Verständnis der Menschen dort komme. Diese Texte dienen mir so auch als Skizzen und in kalligraphischer Form als Grundlage für Strukturen zu meinen Bildern.

Inwieweit dieses Konzept trägt, kann sich aber erst in der Verwirklichung zeigen, gegebenenfalls wird es von mir neu angegangen. Doch es ist für mich ein Anstoß, mit dem ich dort sofort mit der Arbeit beginnen kann, und mir damit eine Grundlage schaffe, auf der ich aufbauen kann.
 

 
       Derzeit erwarte ich eine Zusage von dem National Institute of the Arts in Taipei aus Taiwan.

 

 
> zu Seitenanfang / go to top 18. Oktober 1995, Karlsruhe